DAS THEATERFESTIVAL „UNENTDECKTE NACHBARN“ HAT IN DEN LETZTEN BEIDEN WOCHEN DAS FATALE WIRKEN RECHTEN TERRORS DER GRUPPE „NATIONALSOZIALISTISCHER UNTERGRUND“ IN UND AUS SACHSEN MIT KÜNSTLERISCHEN MITTELN AUSGELEUCHTET. DABEI GELANGEN DEN MACHERN FRAGE-ANSÄTZE UND PERSPEKTIVWECHSEL, DIE IN DER TAGESPOLITIK OFT UNTERGEHEN – ODER GANZ FEHLEN.
Chemnitz/Zwickau. Es gibt Momente, in denen lässt Theater dem Zuschauer, Zuhörer keine Chance: Man muss sich zum Geschehen auf der Bühne positionieren. Sich entscheiden. Zum Beispiel beim Musical „Das scharlachrote Siegel“, das derzeit an der Oper Chemnitz läuft. Da kämpft ein britischer Adliger in Undercover-Superhelden-Manier zu freundlich-frischer Musik gegen die Gewalttäter der Französischen Revolution. Gegen Linksextreme, wenn man will. Das Publikum hat die Wahl, im Theater, wo Anspielungen, Vergleiche, Symbole probates Botschaftsmittel sind, da eine Aussage zu erkennen – oder es als hintersinnfreie Unterhaltung per unverfänglicher Vorlage zu begreifen.
Das Theaterfestival „Unentdeckte Nachbarn“, das am Freitag mit einem Poetry-Slam in der Zwickauer Moccabar und einer „kommentierten Tanzparty“ im Chemnitzer Künstlerklub „Lokomov“ endet, hat seinem Publikum auf anderer Ebene keine Chance gelassen: Besucher der Stücke rund um den „Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)“ mussten sich nicht entscheiden, ob es ihnen um Unterhaltung oder Auseinandersetzung ging. Das Geschehen auf der Bühne zwang durchweg zum tieferen Eintauchen. Zum Perspektivwechsel. Und zum Weglegen auch lieb gewordener Denkschablonen und vermuteter Gewissheiten.
Der Frage, ob Theater überhaupt unpolitisch sein kann, da doch alles, was auf der Bühne gezeigt wird, immer auch eine Position in der Gesellschaft ist, stellte „Unentdeckte Nachbarn“ allein mit der Programmwahl die Überzeugung entgegen, dass Theater politisch sein muss. Dass es sich dieser Rolle stellen muss. Und zeigte gleich noch, wie gut das gelingen kann, denn wer gedacht hatte, er bekäme Zeigefinger zu schon vielfach bekundeten Positionen zu sehen, der wurde positiv überrascht. Fast allen Stücken gelang es eindringlich, Perspektiven zu verändern und Fragen zurechtzurücken. Während beispielsweise die bundesweite mediale Berichterstattung rund um das Thema NSU sich in den letzten Jahren häufig auf den Prozess um Beate Zschäpe fokussierte und dabei zusätzlich auf die Person der schweigenden Angeklagten, rückte „Unentdeckte Nachbarn“ eindrücklich oft verschüttete Opfer-Perspektiven in den Vordergrund, etwa im Stück „Die Lücke“ des Schauspiels Köln.
Oder es sezierte die Ambivalenz der deutschen Mittelschicht wie in „Beate Uwe Uwe Selfie Klick“ vom Figurentheater Chemnitz und dem Verein Grass Lifter, wo man auf erhellend gruselige Weise tolerante Liberale und radikale Rechte nur schwer auseinanderhalten konnte, weil das Stück einen bedenklich gut argumentierten Bogen spannte vom Zschäpe-Prozess über das nach wie vor vorhandene NSU-Unterstützer-Umfeld bis zu Pegida und der Flüchtlingspolitik. Die Produktion war durchweg ausverkauft und soll künftig auch außerhalb der Theatertage auf die Bühne gebracht werden. „Das Stück wird auch für Schulen ein großes Thema werden“, sagt Theaterpressesprecher Mario Köppe. Auch auf diese Weise hat „Unentdeckte Nachbarn“ der regionalen Theaterlandschaft einen Anst0ß verpasst.
Eine Antwort auf die Frage, warum man sich dem NSU-Komplex gerade im Theater nähern muss, gab das Stück „Urteile“ von Christine Umpfenbach. Denn dort kamen kollageartig Personen und Stimmen aus dem realen Umfeld zweier Münchner NSU-Opfer zu Gehör, die die Regisseurin im realen Umfeld der Ermordeten sammeln konnte. Das ging nah, weil es ganz ohne Kitsch und Rührseligkeit gelang, die Zuschauer in die heutige Lage der Opferangehörigen zu versetzen. Was die Last, die die vielen Ermittlungspannen, die quälend ungeklärten Fragen und die schwer verständlichen Verfassungsschutz-Verwicklungen bei diesen erzeugen, abseits der rationalen Ebene direkter begreifbar, fühlbar machte.
Insgesamt kamen zu den Bühnenstücken über 1000 Zuschauer, dazu kommen etliche hundert Gäste bei zahlreichen Diskussionsrunden. Nicht jede Veranstaltung war ausverkauft – bei vielen war der Andrang aber so groß, dass Leute nach Hause geschickt werden mussten. „Für politisches Theater in unserer Region ist das ein großer Erfolg“, sagt Projektleiter Franz Knoppe. Er und seine Mitstreiter hatten „Unentdeckte Nachbarn“ nicht als Überzeugungs-Show konzipiert, sondern für Menschen, die sich länger und tiefer mit dem Thema NSU beschäftigen. „Wir wollten Argumente stärken und neue Sichtweisen erschließen, um damit Multiplikatoren zu erreichen“, sagt er. Allein 25 Theaterpädagogen kamen zu Festival-Aufführungen, die ihre Einsichten in eigenen Veranstaltungen weitergeben.
Wie brisant das Thema bleibt, zeigte in der Nacht zum Dienstag dann der Sprengstoffanschlag auf das ins Festival eingebundene „Lokomov“. Ein Zusammenhang ist bisher nicht sicher, die Ermittlungen laufen. Doch viele Beteiligte haben reagiert, etwa das Chemnitzer „Weltecho“ oder das Schauspiel Köln schickten öffentliche Solidaritätsbekundungen. Das Schauspiel Frankfurt (Main) veröffentlichte auf der Startseite seiner Homepage eine entsprechende Note und schloss sich „der Forderung nach einer vollumfänglichen Untersuchung durch die Polizei und der Prüfung einer etwaigen politisch motivierten Tat“ an, die auch die Festivalmacher erhoben. Zu dem Vorfall geschwiegen haben bisher nur, wie so oft, die Theater aus der Region. Auch die am Festival beteiligten. Doch das Treffen hat gezeigt, dass die Mühlen mahlen. Wenn auch langsam.