Chemnitz. Erneut fegte ein Aufstand durch die grauen Novembertage. Dieses Mal waren Realistinnen, Skeptiker, Kritikerinnen und Träumer eingeladen, eine Reise in mögliche Zukünfte und utopische Welten anzutreten. Nach der Rückschau auf vergangene Umbrüche und Umbruchserzählungen beim letztjährigen Festival Aufstand der Geschichten wurde der Blick in die Zukunft, auf Utopien und Dystopien gerichtet: Welche Erzählungen prägen unsere Vorstellungen über die Zukunft und welche Rolle spielen diese für aktuelle Herausforderungen? Diese Fragen wurden in über 40 Veranstaltungen, darunter Theater, Ausstellungen, Konzerten, Gesprächsformaten und Workshops gestellt. Beteiligt am Festival waren über 35 Partnerorganisationen und Orte im gesamten Chemnitzer Stadtraum.  

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Den ersten Schritt galt es im zum Festivalzentrum gestalteten Chemnitz Open Space hinter dem Karl-Marx-Kopf zu machen. Dieser war vom catalystas collective nach Wochen von Gesprächen mit Chemnitzer Passantinnen in ein Reisebüro verwandelt worden. Mit der Eröffnung des Reisebüros begann auch das Festival. Am Eröffnungsabend stellte Utopieforscher Prof. Richard Saage nach einem Blick in die Ideengeschichte fest, dass zeitgenössische Utopien in jedem Fall selbstreflexiv und kritisch zu sein haben. 

 „Wer aber der Meinung ist, dass die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts eine Veränderung des gesellschaftlichen Status quo voraussetzen, wird die Unverzichtbarkeit von Utopien betonen.“ Prof. Richard Saage, Utopieforscher

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Mit diesen Gedanken im Gepäck luden die catalystas die Besucher im Anschluss und in den nächsten Tagen auf Reisen – alleine, zu zweit oder in Gruppen – in verschiedene utopische Räume ein – Begegnungen inklusive. Der Strand der “Insel” durfte so barfuß und alleine betreten werden,  um dort in der integrierten Ausstellung “Wünsch dir was!” von Träumen und Gedanken marginalisierten Menschen zu lesen. Diese Dokumente von Wohnungslosen, Inhaftierten oder alten Menschen, konnten mit Eigenem ergänzt werden. Der Weg durch das Festivalzentrum führte auch an der Ausstellung “Zwischen den Welten” vorbei, in der Aktive von Agiua e.V. sich mit der Zukunft von Migration auseinandersetzten. Nach draußen ging es zur Wanderausstellung der Offenen Gesellschaft, die Passantinnen zum Innehalten und Austausch über die Gesellschaft veranlasste.

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Der Weg in die Zukunft führt manchmal vielleicht über eine Umweg durch die Vergangenheit. So blickten mit “Eiserner” Vorhang auf!  Iris Tätzel-Machute, Volkmar Zschocke, Lázló Nagy als Teil der Frauen-, bzw. der Umweltbewegung und des paneuropäischen Picknicks zurück und teilten die Erfahrungen aus dem Umbruchsjahr 1989. 

“Vor allem wünsche ich mir, dass Menschen sich mit Geschichte beschäftigen und aus Geschichte lernen. Und zwar nicht nur die letzten dreißig Jahre zurückblicken, sondern viel weiter. Es gibt immer wieder Mechanismen, die sich wiederholen.” Iris Tätzel-Machute

Gerade öffne sich nach Volkmar Zschocke ein ähnliches utopisches Zeitfenster wie damals und es scheint noch nicht klar zu sein, wohin es gehe. Aber es gelte, dieses Zeitfenster zu nutzen und entschlossen zu sein.

In Gesprächsformaten führte das Festival an viele Orte politischer oder gesellschaftlicher Utopien wie den Maidan, den Gezi-Park, zu Occupy Wallstreet, nach Syrien, von denen Aktivistinnen per Live-Schaltung erzählten und berichteten. Noah Fischer, ein Künstler, der bei Occupy Wallstreet aktiv war, war vor Ort  um von seiner Arbeit und den Ereignissen und Erkenntnissen des Jahres 2011 zu erzählen.

“Utopie ist eine menschliche Möglichkeit, die existiert. Nach 2011 [Beginn der Occupy Bewegung, Anm. d. Redaktion] weiß ich, dass dieser Zustand existiert. Jetzt gibt es das als Potential. […] Zur Utopie zu gelangen, bleibt aber eine Entscheidung.” Noah Fischer

Diese Entscheidung trafen die Teilnehmer des Workshops Micro Utopias. Damit stellten sie sich der Herausforderung aus einem scheinbar unveränderlichen Alltag herauszutreten und utopische Möglichkeiten in der Stadt konkret sichtbar zu machen. 

Mit der Beratung Juliane Stiegeles von Utopia Toolbox erkundeten die Teilnehmer Chemnitz und schafften in einem zweiten Schritt kleine utopische Interventionen. So entstanden in der Bazillenröhre, einer langen und ungemütlichen Fußgängerinnenunterführung am Bahnhof Hüpfspiele, die von den Passanten gerne genutzt wurden, um den Weg durch den Tunnel angenehmer zu gestalten. 

“Wir stecken in einer enormen Energiekrise, was die menschliche Kreativität betrifft.[…] Wir können uns nichts neues mehr vorstellen!” Juliane Stiegele, Utopia Toolbox

Ihre eigene Reise angetreten haben auch Jugendliche aus Hamburg und Zwickau, um im AJZ gemeinsam mit jungen Menschen aus Chemnitz einen dreiteiligen Theaterabend zu gestalten. Dieser war der Abschluss des mehrjährigen Projekts Wir.Wie?, in dem sich vier Jugendtheatergruppen auf Basis ihrer persönlichen Erfahrungen dem Utopischen so konkret wie abstrakt, phantasievoll wie realistisch näherten.

“Ich glaube fest daran, dass eine bessere Welt möglich ist.” Schülerin vom Projekt Wir.Wie?

Eine gemeinsame Szene wurde in einem Kraftakt von einem Tag kurz vor der Premiere fertiggestellt, bevor sich die jungen Schauspielerinnen vom Publikum feiern lassen konnten. Zum Ausklang wurden die Grenzen zwischen Darstellern und Zuschauenden vergessen und die Jugendlichen luden in kleinen Gruppen zum Gespräch. 

Eine treue Gefährtin auf unserer Reise durch die Utopien war Tina. Der Roboter – elegant in pink – befragte mit sonorer Stimme auf seinem Weg durch die Stadt und im Festivalzentrum Menschen nach ihren Wünschen für das Jahr 1989, das hundertjährige Jubiläum der Friedlichen Revolution. Zum Abschluss des Festivals wurden alle ihre gesammelten Botschaften an die Zukunft dem Stadtarchiv übergeben, um in 70 Jahren veröffentlicht zu werden. 

Ein Mann übergibt einem anderen eine Zeitkapsel mit den Chemnitzer Wünschen an die Zukunft

Auch wenn gerade einige junge Besucherinnen “Tipp-Tipp-Tina” vermissen werden, hat sie damit ihre Aufgabe erfüllt. Wie die utopischen Gedanken vom Aufstand der Utopien wirken und wo sie in Chemnitz ihren Raum finden, werden wir sehen. Aus der Vergangenheit wissen wir aber, das alles was heute realistisch ist, gestern noch utopisch war.  Im Jahr 2089 werden die Generationen nach uns überprüfen können, welche Träume Realität wurden. In jedem Fall aber überdauern die Träume von Heute an ein Später nun im Archiv. Damit befinden sie sich in guter Gesellschaft, versicherte der Leiter des Stadtarchivs Paolo Cecconi.

“Selbst die ältesten Dokumente im Stadtarchiv haben schon eine Zukunftsvision.” Paolo Cecconi

Das gesamte Programm des Festivals gibt es hier auf der Webseite.

Mehr Informationen zur Initiative und der Mission hinter dem Festival gibt es ausführlich aufbereitet in der Broschüre Über Chemnitz reden. Ein Aufstand