Laura Linnenbaum, Kuratorin des Theatertreffens „Unentdeckte Nachbarn“ in Chemnitz und Zwickau, über die künstlerische Aufarbeitung des NSU im Gespräch mit Andreas Herrmann

Chemnitz und Zwickau werden vom 1. bis 12. November zu Hauptstädten der Aufklärung. Zumindest was den selbsternannten „Nationalsozialistischen Untergrund“, in der Presse oft kurz und knapp nur als NSU bezeichnen, anbetrifft. „Unentdeckte Nachbarn“ lautet der Titel dieses ambitionierten Festivals, das sich dem Umfeld der Orte widmet, an denen das aus Jena geflüchtete Trio zweitweise wohnte (in Chemnitz von 1998 bis 2000, in Zwickau von 2000 bis 2011). Auf Initiative des Vereins Gras Lifter, einer freien Künstlergruppe, die sich zusammengefunden hat, um Aufarbeitung, Erinnerung und Aufklärung über den NSU in Zwickau, Chemnitz und Sachsen zu stärken, warben die Organisatoren um Projektleiter Franz Knoppe dafür Mittel im unteren sechsstelligen Bereich ein. Insgesamt 30 Veranstaltungen an 18 Orten stehen auf dem Programm, darunter drei Ausstellungen und zwölf Diskussionen, die nicht nur in den beiden westsächsischen Städten, sondern teils auch in Bautzen, Jena, Nürnberg und Dresden gezeigt werden.

Im Vorfeld des Treffen unterhielt sich Andreas Herrmann für Theater der Zeit mit Laura Linnenbaum, Kuratorin der zehn eingeladenen Theaterproduktionen. Die Nürnbergerin, Jahrgang 1986, inszenierte zudem die Uraufführung „Beate Uwe Uwe Selfie Klick – eine europäische Groteske“ nach einem Text von Gerhild Steinbuch.

Frau Linnenbaum, Sie haben als Regisseurin viel in Bonn, Saarbrücken und Osnabrück gearbeitet. Was hat Sie jetzt nach Sachen geführt, nach Chemnitz, in die Gesellschaft des freien Kollektivs Grass Lifter, das sich künstlerisch für die Aufarbeitung des NSU einsetzt?

Gundula Hoffmann, Direktorin der Figurensparte am Theater Chemnitz, und Festivalchef Franz Knoppe haben die Grass Lifter einst mitgegründet. Die Gruppe hat ein Stück der Wiese, die über der Freifläche des Zwickauer Wohnhaus, das von Uwe, Uwe und Beate bewohnt wurde und 2011 abgebrannt ist, ausgegraben und der Oberbürgermeisterin übergeben. Sie wollten „kein Gras über die Sache wachsen lassen“. Deshalb gibt es jetzt – rund um den fünften Jahrestag der Aufdeckung des NSU-Trios am 4. November – dieses Festival mit dem Namen „Unentdeckte Nachbarn“. Gundula Hoffmann kannte meine Arbeit und meinen Wunsch, mich mehr mit politischen Stoffen zu beschäftigen. So kam zunächst der Regieauftrag, dann die Kuratorenaufgabe.

Wie geht man ein solches Festival an?

Man guckt deutschlandweit und auch international aktuelle Stücke, die sich mit dem Thema NSU oder Rechtsextremismus befassen. Unser Programm ist dabei sehr vielfältig geworden, wer glaubt, dass Lachen bei dem Thema ausgeschlossen ist, täuscht sich. Emotionale Höhen und Tiefen sind inklusive. Dabei gibt es keinen moralischen Zeigefinger, kein Expertentheater, sondern berührende, ehrliche Stücke, so wie „Urteile“ vom Münchner Residenztheater in der Regie von Christine Umpfenbach, das uns auf wunderbare Weise die Opferperspektive nahe bringt.

Ich habe 80 Stücke gesichtet – viele live, noch mehr im Zug auf DVD – aber alle komplett! Im September 2015 habe ich begonnen. Einige Stücke waren zu der Zeit kurz davor, abgespielt zu werden, andere sind während der Vorbereitung des Festivals erst in der Entstehungsphase gewesen. Daran sieht man, dass das Thema die Theater schon eine ganze Weile interessiert und nach wie vor beschäftigt.

Nun zu Ihrer Inszenierung. „Beate Uwe Uwe Selfie Klick“ ist ein Auftragswerk …

Genau. Der Untertitel heißt nun „Eine europäische Groteske“. Wir wurden von der Autorin Gerhild Steinbuch ausdrücklich aufgefordert, es mit dokumentarischem Material anzureichern. Ich wurde in der Vorbereitung öfter gefragt, warum wir uns an einen noch nicht abgeschlossenen Fall heranwagen. Und ehrlich gesagt: Am Ende geht es gar nicht um diesen speziellen Fall. Es geht darum, wofür er steht und warum die Aufdeckung des NSU kein bisschen an unserer Wahrnehmung des deutschlandweit stattfindenden Rechtsruck geändert hat. Ich bin sehr froh, dass Gerhild Steinbuch für uns als Autorin einen so spielerischen und fantasievollen Blick auf diese Themen wirft.

Die Inszenierung arbeitet auch mit Puppen. Wie darf man sich die vorstellen?

Die Beate Zschäpe, die wir aus dem Prozess kennen, ist eine Konstruktion. Sie wird durch eine menschengroße Tischpuppe dargestellt, die alles kann, was die jeweiligen Nachbarn an ihr beobachtet haben. Aber sie bleibt stumm – wie im Prozess. Insgesamt gibt es fünf Puppen und viel Objekttheater.

Und Uwe und Uwe?

Die kommen nicht vor. Dafür 30 braune Winkekatzen mit typischer Armbewegung.

Vor wenigen Wochen gab es zudem einen neuen ungeheuerlichen Fund. Im Juli hatte ein Pilzsammler die Leiche der im Mai 2001 ermordeten neunjährigen Peggy in einem Wald bei Rodacherbrunn in Thüringen gefunden. Wie Ermittler jetzt entdeckten befanden sich auch DNA-Spuren von Uwe Böhnhardt am Fundort.

Auch diese Fährte wird in unserem Stück thematisiert . Auch Alice Schwarzer taucht auf. Lassen Sie sich überraschen.

Im März sind Sie dann schon wieder in Sachsen?

Ja, am Staatsschauspiel Dresden zur Uraufführung von „Homohalal“ von Ibrahim Amir.

Das Stück sollte am Wiener Volkstheater zur Uraufführung kommen, wurde aber noch vor der Premiere wieder abgesetzt …
Ja, aber da war die Stückfassung auch noch sehr roh. Wir sitzen jetzt mit dem Autor Ibrahim Amir an einer Dresdner Spielfassung. Eine neue Version, die gut nach Dresden passt – auch zum Montagscafé, bei dem sich Dresdner und Geflüchtete im Kleinen Haus treffen. Es ist eine Dystopie über die Zukunft, über die Frage, was mit den Aktivisten von heute in 20 Jahren passiert. Der Autor, selbst syrischer Kurde, spielt unter anderem mit dem Thema Homosexualität als Grund für andauernde, verquere Ausgrenzung. Und mit der Doppelmoral in „seiner“ und „unserer“ Community. Das schöne ist, dass er dabei alle kulturellen Missverständnisse nicht nivelliert, sondern auf zwischenmenschliche Unstimmigkeiten herunterbricht. Das erzeugt – bei aller politischen Dystopie – auch komödiantische Freude.

Dennoch sind 20 Jahre eine lange Zeit – da kann viel passieren …

Am Menschsein hat sich vermutlich auch in 20 Jahren noch nichts geändert. Aber was ich beobachte ist, dass die Fluchtbewegungen, die ja nicht nur Krieg, sondern zunehmend auch Umweltkatastrophen zur Ursache haben, dazu genutzt werden, wieder klammheimlich aufzurüsten. Dieser Militarismus ist natürlich ein fruchtbarer Boden für den Nationalismus, der langsam wieder zur Blüte reift. Das kann maninternational beobachten – und ich finde das extrem beängstigend.

Können Sie sich vorstellen, Ihr buntes Wandertheaterleben aufzugeben und fest an ein Haus zu gehen?

Na sicher, irgendwann einmal. Mit Leuten, die man gut kennt, zu arbeiten, sich an ihnen zu reiben und sich zu entwickeln, ist schon reizvoll. Ich liebe es aber auch, irgendwo einzutauchen. Wie jetzt gerade hier in Chemnitz – wo ich gerade mit einem unwahrscheinlich schönen

Ensemble arbeite.

Was wäre denn dafür Ihr Lieblingshaus?

Ich hab mich an allen Theatern sehr wohl gefühlt. Zurzeit hängt mein Herz durch die letzten Arbeiten natürlich ein bisschen an Bonn, aber auch Saarbrücken und Osnabrück sind tolle Häuser. Frankfurt ist meine Kinderstube. Noch genieße ich das Nomadenleben, aber irgendwann möchte ich schon ankommen und bleiben.

Netzinfos mit aktuellem: www.unentdeckte-nachbarn.de

Laura Linnenbaum hatte am 20. Oktober ihren ersten großen Auftritt in Chemnitz: Ihre partizipative Audioinstallation „Gib Deine Stimme“ in vier goldenen Telefonzellen wurde am Abend eröffnet und erzählt bis zum 11. November auf dem Johannisplatz Fluchtgeschichten aus verschiedenen Zeiten, die vom Publikum ergänzt werden können. Foto Andreas Herrmann